Sunday, May 20, 2007

Spytilitos

(die Geschichte eines Säulenheiligen)


Rolf-Peter Wille


In einer Provinz des
byzantinischen Reiches lebte ein frommer Mann namens Brontéon, genannt Spytilitos. Brontéon war Asket und ein berühmter Säulenheiliger. (Bilder von St. Spytilitos findet man in den Ikonostasen zahlreicher orthodoxer Kirchen und auch in den byzantinischen Sammlungen des Bode Museums, der Eremitage und des Metropolitan Museums.) Er wohnte im Freien auf dem Kapitell einer kleinen römischen Säule in der Wüste vor den Mauern der Stadt. Dem Schlaf ergab sich der strenge Mönch nur wenige Stunden, denn meist sah man ihn, hoch unter dem Himmel stehend, tief in Andacht versunken. Die grau verwaschene Farbe der Säule hatte er bereits angenommen, selbst sein Heiligenschein wirkte versteinert, und an ihn hätte wohl niemand auch nur einen winzigen Augenblick seines Interesses verschwendet, wenn Spytilitos nicht alltäglich eine markante Schimpfpredigt wuchtig in die Wüste gedonnert hätte. Eine gewaltige Stimme besaß der Apostel, einen Bass, um den ihn manch griechischer oder römischer Orator beneidet hätte, und wenn er predigte mit erhobenen Armen, meist gegen die Laster der Völlerei und der Wollust, so spuckte er gewaltig aus nach jedem Satze und als Kadenz in die große Menge seiner Jünger. Die frommen Pilger nun, anstatt sich zu beschirmen, wetteiferten um die Ehre, von St. Spytilitos bespuckt zu werden. Bereits ein mikroskopischer Tropfen des heiligen Speichels galt als glückbringende Kostbarkeit, und die begehrten Plätze in Spuckweite der Säule waren schon Stunden vor der Predigt besetzt. Fanatiker schmorten dort sogar unter der sengenden Mittagssonne und in weißen Gewändern, und sie hielten tönerne Schalen in den Händen, um den Segen des Redners zu empfangen.

Zwei Rivalen des Spytilitos platzierten sich auf weiteren Säulen in Ruf- und Spuckweite des Heiligen. Auch sie eroberten sich ihre Verehrer mit gewaltigen Predigten, und es brach ein Speichelkrieg aus vor den Mauern der Stadt. Spytilitos gewann den Streit, da seine Gegner nach nur sieben Jahren einem Sonnenstich erlagen.

Da geschah es jedoch, dass eine Dürre das Land ergriff, seine Brunnen versiegen ließ, Vieh und Menschen marterte. Um Regen zu erbitten, begab sich das Volk zur Säule des heiligen Spytilitos. Der aber stand nur stur und steinern auf seinem Kapitell, und kein Wort sprach der Asket. Da erhob sich ein Murren aus der Menge, und Kunde von dem Unwillen des Volkes gelangte sogar zum Kaiser, der einen Aufruhr befürchten musste. Der Kaiser, ein weiser Herrscher, befahl, dass man ihn auf einer Reise durch die Provinz heimlich des nachts in einer Sänfte zur Säule des Spytilitos trage. Zwei Wächter stellten eine goldene Leiter an die Säule und die bestieg der Kaiser ganz allein.

“Erhabener! Heiliger! Es geht...”, sprach der Kaiser, als er das Kapitell erreicht hatte, “...so nicht weiter! Eine Dürre plagt uns. Das Volk murrt, weil Du ihm Deinen heiligen Speichel verweigerst. Wenn es einen Aufruhr gibt, so werden die Säulen des Reiches wanken. Und auch die Säule des Spytilitos. Dich wird man wird steinigen.”

Bei diesen Worten des Kaisers erschrak Spytilitos. “Majestät!” widerkrächzte er, strich sich den Sand aus dem Bart, und die Blume seines verbrannten Odems erblühte in der kaiserlichen Nase. “Vertrocknet ist mein Gaumen von der Dürre. Die Zunge klebt mir verwelkt auf den Zähnen. Kaum kann ich sprechen.”

Da befahl der Kaiser, dass man eine Amphore Kamelmilch vor jeder Predigt des Heiligen auf das Kapitell der spytilitischen Säule trage, damit der Heilige, wenn ihm der Speichel trockne, das Volk mit Kamelmilch bespucke.

Grausame Dürre! Auch die Kamele bezwangest Du endlich, und ihre Milch versiegte wie zuvor die Brunnen. St. Spytilitos verdorrte stehend und klebte nur noch als Mumie auf seiner Säule. Das durstige Volk murrte. Die Menschen rissen sich ihre Gewänder vom Leibe, bewarfen die Mumie mit Sandalen, tönernen Schalen, und mit Steinen, bis sie zu Staub zerfallen war. Da aber erhob sich ein gewaltiger Donner aus der Wüste, gewaltiger noch als der Bass des Spytilitos. Ein Orkan fegte vom Himmel, mischte den Staub des Säulenheiligen mit dem Wüstensande und wehte ihn auf das zitternde, furchtentzückte Volk. Nur wenige Augenblicke später wurden die Menschen von einem sintflutartigen Regen überschüttet.

Die Säule des Spytilitos ist noch heute eine bekannte Wallfahrtsstätte. Ihr Sockel ist gut erhalten, und Touristen kaufen dort tönerne Schalen, an denen der versteinerte Speichel des Heiligen klebt.


back to
Rolf-Peter Wille: My Writings